Dienstag, 5. Juni 2012

Künstler der Zeitenwende

Tatlin: Matrose. Quelle: Museum Tinguely
Basel.- Mit Vladimir Tatlin (1885-1953) stellt das Museum Tinguely in Basel ab 6. Juni eine legendäre Künstlerpersönlichkeit ins Zentrum seiner Sommerausstellung. Tatlin ist eine der Leitfiguren der Russischen Avantgarde. Fast zwanzig Jahre ist es her, seit dieser zentrale Erneuerer der Kunst letztmals in einer umfassenden Retrospektive zu sehen war. Präsentiert werden frühe Gemälde, raumgreifende Konterreliefs, Rekonstruktionen des revolutionären Turms und der Flugapparat Letatlin. Seine Arbeiten für das Theater runden die Ausstellung ab. Mit über 100 Meisterwerken vorwiegend aus den wichtigsten Sammlungen in Moskau und St. Petersburg wird Tatlin als herausragender Künstler der Zeitenwende zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfassend vorgestellt.

Heute fasziniert Tatlin mit seinem stets auf Veränderung zielenden und niemals den gesellschaftliche Gesamtzusammenhang ausser Acht lassenden Werk weil er vor bald einem Jahrhundert die Grundlagen für Strömungen setzte, die in der Gegenwartskunst nach wie vor relevant, von inspirierender Kraft und lebendiger Aktualität sind. Ohne Berührungsängste zum Fachfremden, war Tatlin, der gerne im Kollektiv gearbeitet hat, ein Meister im Fach von Interdisziplinarität und Synthese, im Zusammenführen von Dingen und Materialien, von Formen der Präsentation und wirkungsästhetischer Aspekten, die bis zu seiner Zeit nicht gesehen wurden.

Vladimir Tatlin begann seine Laufbahn als Seefahrer. Bis 1913 war er als Künstler ausschliesslich im Bereich der Malerei und Zeichnung tätig. In jungen Jahren beschäftigte er sich mit der alten russischen Ikonenmalerei und der Volkskunst, anschließend mit den aktuellsten Strömungen der Avantgarden in Russland und Westeuropa, namentlich Paris. Sein gesamtes späteres Schaffen findet die Grundlage in der Malerei. Seine frühen Gemälde sind in der Ausstellung umfassend vertreten. In ihrer flächig-dekorativen Farbigkeit, ihrem rhythmisch durchpulsten Kurvaturenstil, wo dunkle und helle Umrisslinien eine sonderbare Prägnanz erhalten, gelingt Tatlin eine eigenständige Synthese von russischer Tradition und französischer Avantgarde.

1914 hat Tatlin den Schritt vom Avantgarde-Maler zum revolutionären Künstler unternommen; eine Vorahnung der politischen Epochenwende, die 1917 zum Durchbruch kam, lag in der Luft. Von Tatlins (vor der Oktoberrevolution) entstandenen Malerischen Reliefs und Eck-Konterreliefs – seinem radikalsten und weitreichendsten Beitrag zur Kunst der Moderne – ist wenig erhalten. Die Ausstellung fokussiert mit den heute noch existierenden Originalen aus Moskau und St. Petersburg und einer breiten Übersicht der nach fotografischen Vorlagen entstandenen Rekonstruktionen diesen für die Geschichte der Kunst zentralen Aspekt.

Revolution, Architektur und Utopie – Tatlins Turm
Wenige Kunstwerke haben im 20. Jahrhundert einen derart legendären Status gewonnen wie Tatlins 1919-20 erarbeitetes Projekt des Denkmals der III. Internationale. Die Realisierung der 400 Meter hohen Konstruktion wurde sowohl durch den Bürgerkrieg verhindert, als auch durch fehlende materielle Ressourcen und die technologischen Grenzen jener Zeit. Das Monument – parallel zur Erdachse gestellt, mit vier unterschiedlich rasch nach kosmologischen Rhythmen und Gesetzen um die eigene Achse rotierenden Innenkörpern – hätte den Sitz einer hierarchisch und gerecht organisierten Regierung einer neuen sozialen Ordnung repräsentiert.Die sich drehenden Raumkörper von Tatlins „Weltmaschine“ zeigen im wörtlichen Sinne Revolution an.

Im Zuge der Wiederentdeckung von Tatlins Œuvre seit den 1960-er Jahren ist das nicht erhaltene Turmmodell in verschiedenen Varianten rekonstruiert worden. Spektakulär werden die beiden herausragendsten – aus Moskau und Paris – in Basel gezeigt und in Dialog gebracht. Sie erlauben es, Tatlins Rezeptionsgeschichte nachzuvollziehen und die Kriterien zu verstehen, die zu ihrer Entstehung geführt haben.

Der Flug des Letatlin
In den 1920er Jahren begab sich Tatlin auf die Suche nach einer körperlich-kinetischen Dimension des Fliegens. Den individuellen Träumen einer kollektiv normierten Gesellschaft verlieh er 1929/32 mit der visionären Flugplastik Letatlin Ausdruck. Für den Künstler, der einen Hang zur Mystifikation hatte, war das Fliegen so etwas wie eine im Zuge der Evolution verlorengegangene menschliche Urerfahrung.

Das Theater als Bühne der neuen Welt
Tatlins Beschäftigung mit dem Theater währte sein ganzes Leben. Autobiografische Bezüge sind in Tatlins Leidenschaft für Richard Wagners Oper Der Fliegende Holländer evident. Der Eindringlichkeit der musikalischen See- und Seelenlandschaften versuchte Tatlin, ein spätromantisch-rayonistisches Äquivalent in Malerei gegenüberzustellen, Klangfarbe in Farbklang voller dramatischen Odems zu überführen. Der Höhepunkt in Tatlins Schaffen für das Theater repräsentiert seine 1923 erfolgte Inszenierung von Velimir Chlebnikovs futuristischem Metapoem Zangezi.

Kurator und Katalog
Kurator der Ausstellung ist Gian Casper Bott. Anlässlich der Retrospektive erscheint ein Katalog, der Werk und Leben von Vladimir Tatlin im Licht der neuen Forschung vorstellt, mit Beiträgen von Simon Baier, Gian Casper Bott, Dmitrii Dimakov, Jürgen Harten, Yevgraf Kipatop, Nathalie Leleu, Maria Lipatova, Anna Szech, David Walsh, Roland Wetzel (deutsche und englische Ausgabe, 240 Seiten, 200 Abbildungen, Hatje Cantz Verlag, 52 CHF, ISBN 978-3-9523990-0-2.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11 – 18 Uhr, Montag geschlossen

Tatlin. neue Kunst für eine neue Welt
6. Juni - 14. Oktober 2012

Museum Tinguely
Paul Sacher-Anlage 2
3255 CH-4002 Basel
Telefon + 41 61 681 93 20
infos@tinguely.ch
http://www.tinguely.ch/

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