Skulptur eines Vogelkopfes, ca. 900–550 v. Chr.; © Ministerio de Cultura del Peru. Museo Nacional Chavín, Foto: Yutaka Yoshii |
Zürich.- Chavín mit seiner Tempelanlage und den rätselhaften Steinskulpturen galt seit dem frühen 20. Jahrhundert als Mutterkultur der Anden. Der dreitausend Jahre alte Monumentalbau im Hochland von Peru ist für das Land und für die Kulturen Südamerikas von höchster Bedeutung. Die Anlage ist UNESCO-Weltkulturerbe seit 1985, dennoch hat es bisher noch nie eine Chavín-Ausstellung gegeben. Das Museum Rietberg hat sich der weiteren Erforschung und Erhaltung dieser Kultur angenommen und zeigt ab 23. November eine Ausstellung dazu. Die Schau und der zugehörige Begleitkatalog sind in Zusammenarbeit mit führenden Archäologen, dem peruanischen Kulturministerium und dem Bundesamt für Kultur entstanden.
Die spektakulärsten Expponate der Ausstellung sind 13 grosse Steinskulpturen von Chavín sowie die drei vollständige Prunkgräber-Inventare mit Goldschmuck des Kuntur-Wasi-Tempels. Die fünf bunten und komplex gewebten grossformatigen Textilien verblüffen durch ihre rätselhaften Bildmotive und ihren Erhaltungszustand. Die aus Meeresschnecken kunstvoll geschnitzten und verzierten Trompeten aus dem Chavín-Tempel bleiben nicht stumm, sondern sind in der Klanginstallation erlebbar. Erstmals werden auch die kostbaren Keramikgefässe gezeigt, die vor dreitausend Jahren als Opfergabe an die Götter im Chavín-Tempel niedergelegt wurden. Ihre Verzierung mit Drachenwesen und mythischen Gestalten sind rätselhaft und faszinierend. Des Weiteren werden exklusive Keramikgefässe, Knochenschnitzereien, Steinskulpturen und Goldschmuckstücke präsentiert.
Im Hochland von Peru, hinter den Schneebergen der Cordillera Blanca, im engen Gebirgstal Callejón de Conchucos, liegt der monumentale Tempel von Chavín de Huántar. In Peru kennen alle den dreitausend Jahre alten Bau, hierzulande weiss kaum jemand von seiner Existenz. Die Menschen bauten dort, wo die Naturkräfte in aller Deutlichkeit zu spüren sind, bereits 2500 Jahre vor den Inka eine gewaltige Tempelanlage. Sie scheuten weder Arbeitsaufwand noch Kosten: Den harten Stein verarbeiteten sie kunstvoll und schmückten die Anlage mit riesigen Reliefs und rätselhaften Steinskulpturen. Sie leiteten reissende Gebirgsflüsse um, kreierten künstliche Wasserläufe und den Zusammenfluss zweier Ströme. Sie schufen mystische Rauschquellen im Tempelinnern und lenkten Sonnenlicht bis tief in die unterirdischen Räume und Gänge hinein – man muss den Göttern nahestehen, um solches durchsetzen zu können.
Die neue Elite, vermutlich eine priesterliche Kaste, vermochte offenbar durch eindrücklichste Überzeugungsarbeit sozial hochstehende Entscheidungsträger unterschiedlicher Regionen an sich zu binden, und die konkurrierenden Zentren trieben sich wohl in dieser Überzeugungsarbeit ihrer Anhängerschaft gegenseitig zu Höchstleistungen an. Wahrscheinlich pilgerten privilegierte Anhänger zu bestimmten Zeiten zum Tempelkomplex. In der szenisch konzipierten und bebilderten Anlage wurden das neue Weltbild und sein Bedeutungssystem, welche die früheste komplexe Gesellschaftsform der Zentralanden zu tragen vermochten, sowohl geschaffen als auch vermittelt. Die Reste der massiven, aus Stein errichteten Gebäude zogen schon früh die Aufmerksamkeit von Reisenden und Gelehrten auf sich. Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts berichtete ein Chronist von einer mächtigen Festungsanlage mit fremd anmutenden, riesigen Skulpturen und Gesichtern in deren Mauern. Anfangs des 17. Jahrhunderts war die Rede von einer mit Rom oder Jerusalem vergleichbaren Orakelstätte in dem engen, unwirtlichen und abgelegenen Hochtal.
Im 20. Jahrhundert postulierte der peruanische Archäologie-Pionier Julio C. Tello, Chavín de Huántar sei der Ursprungsort der andinen Hochkulturen und Zentrum der Mutterkultur des Andenraumes. Im Zentrum seiner Forschung stand die über vier Meter hohe Hauptskulptur, die wegen ihrer langen und unten spitz zulaufenden Form «el Lanzón» genannt wird. Sie steht in einer äusserst engen und dunklen Kammer im Tempelinnern und ist nur durch einen langen, schmalen Gang erreichbar. Die menschengestaltige Figur zeigt, wie zahlreiche andere Skulpturen auch, raubkatzenartige Züge, Reisszähne und Krallen. Ähnliche Darstellungen finden sich in anderen Reliefs, weshalb Tello zur Annahme kam, im Tempelkomplex von Chavín sei die Gottheit Wiracocha angebetet worden – dieselbe Gottheit also, welche später von den Inka verehrt wurde –, und zwar in ihrer ursprünglichen Gestalt des Jaguars. Damit brachte er sowohl die Verbindung zum Amazonasgebiet als auch ein hohes Alter des Baukomplexes ins Spiel. In der Hauptstadt Lima vermochte die Präsentation der sogenannten Raimondi-Stele und des Tello-Obelisken, zwei Schlüsselskulpturen Chavíns, zudem, die These der Mutterkultur weiter zu festigen.
Die frühen Zeremonialbauten wurden von landwirtschaftlichen Gesellschaften in den von ihnen bewirtschafteten Flussoasen errichtet und dienten als Ort der Zusammenkunft und als Platz für Riten und Gebräuche. Allmählich entwickelte sich eine soziale Schicht mit zunehmenden Besitzansprüchen sowie spezialisiertes Handwerk. Das Buhlen um Ressourcen und Anbauflächen spielte sich dabei auch über die konkurrierende Zurschaustellung immer grösserer lokaler Zeremonialbauten ab. Darstellungen von übernatürlichen mythologischen Mensch-Tier-Mischwesen nehmen dabei eine zentrale Rolle ein.
Chavín de Huántar war damals nicht die einzige Tempelanlage, wenn auch vielleicht die grösste. Gleichzeitig existierten weitere Zentren wie Kuntur Wasi, Pacopampa oder Kotosh. Deren Ähnlichkeiten und Unterschiede zeigen, dass sie zwar zu einem gemeinsamen sozialen System und Weltbild gehörten, jedoch um Einflussnahme und Anhängerschaft buhlten, also auch Konkurrenten waren. Dank der enormen Faszination und der langen Forschungsgeschichte bietet die Tempelanlage von Chavín de Huántar heute ein einmaliges Fenster in eine Welt, die unsere westlich geprägten Vorstellungen von Kultur und Fortschritt zu erschüttern vermag. Nicht mit Waffengewalt und nicht mit Schrift, sondern mit Kunst, Musik und der Beeinflussung aller Sinne wurde in Chavín ein Weltbild eingeführt, das die Gesellschaft im Andenraum formte – und Chavín den Titel der «Mutterkultur» einbrachte.
Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit auf diesem Gebiet führenden Archäologen und dem peruanischen Kulturministerium konzipiert. Sie gibt erstmals einen Überblick über die Kunst und Kultur von Chavín und setzt vor allem auch – zum Schutz des Weltkulturerbes von Chavín – ein Zeichen für eine internationale Kooperation zwischen Peru und der Schweiz: Mit modernster Technologie und dem Einsatz von Laserscannern und Flugdrohnen ist der Zustand des gesamten Tempels und dessen Skulpturen im Frühling 2012 millimetergenau dreidimensional vermessen und dokumentiert worden. Zusammen mit dem Bundesamt für Kultur finanziert das Museum Rietberg ausserdem die Einrichtung einer Steinskulpturen-Restaurierungswerkstatt, in welcher Schweizer Spezialisten ab August 2012 in enger Zusammenarbeit mit lokalen Auszubildenden die gefährdeten Kulturgüter durch Knowhow-Transfer nachhaltig sichern.
Dank dieses Engagements vor Ort kann das Museum Rietberg erstmals rund 200 Objekte präsentieren: grosse Steinskulpturen und Reliefs übernatürlicher Mensch-Tier-Mischwesen, die Chavín bisher noch nie verlassen haben, kostbare Tongefässe aus den unterirdischen Gängen des Tempels, den ältesten rituellen Goldschmuck ganz Amerikas und farbenprächtige grossformatige Textilien. Die Ausstellungsarchitektur ist dem Tempel von Chavín nachempfunden. Wer auch immer den Tempel vor mehreren tausend Jahren betreten durfte, machte sinnliche Erfahrungen, die in der Ausstellung mit Objekten, aber auch mit Ton- und Filmimpressionen hervorgerufen werden – modern interpretiert, und somit für uns verständlich.
Zwei Filme sind eigens für die Ausstellung produziert worden. Der Animationsfilm (ca. 15 Min.) visualisiert die Architektur und den gesamten Naturraum des Tempels. Die leitenden Archäologen John W. Rick (Stanford University) und Luis G. Lumbreras (Lima) trugen beratend zur virtuellen Darstellung des Tempels und zur Einführung in die Architektur und deren Geschichte bei. Neben der monumentalen Architektur dienten auch Klang und Musik damals den privilegierten Priestern als Raum für das Übertreten in einen anderen Wahrnehmungszustand, für Audienzen bei den Göttern. Im Frühling dieses Jahres liessen sich der peruanische Saxophonist Jean Pierre Magnet und der Schweizer Posaunist Michael Flury vor Ort inspirieren. Es entstanden gemeinsame Konzerte in Lima, Chavín und Zürich. Mit den im Tempel ausgegrabenen pututus, Meeresschnecken-Trompeten, hat Flury eine Klanginstallation erarbeitet, welche die Ausstellungsbesucher im Museum Rietberg in die geheimnisvollen Sphären Chavíns entführt.
Das Katalogkonzept wurde von den führenden Wissenschaftlern während der mesa redonda in Lima (17., 18. Januar 2011) erarbeitet. Es handelt sich um die erste umfassende Publikation über die Archäologie des Formativums (ca. 3500–200 v. Chr.) und die frühe Kulturgeschichte Perus. Das Buch besteht aus einem Essay-Teil (224 S., 136 Farb-Abbildungen), in dem die Autoren über ihre Forschungsprojekte und deren Resultate berichten, und dem Katalog-Teil (184 S., 173 Exponate) mit grosszügigen Exponat-Fotografien und deren Beschreibungen: «Chavín – Perus geheimnisvoller Anden-Tempel.» Herausgegeben von Peter Fux, Museum Rietberg Zürich; Verlag Scheidegger & Spiess. Gebunden, 408 Seiten, ca. 280 Farbabbildungen 23 x 30 cm, ISBN 978-3-85881-365-7; CHF 66 / EUR 58
Öffnungszeiten: Di bis So 10 – 17 Uhr, Mi und Do 10 – 20 Uhr, Montag geschlossen
Chavín – Perus geheimnisvoller Anden-Tempel
23. November 2012 bis 10. März 2013
Museum Rietberg
Gablerstrasse 15
CH - 8002 Zürich
0041 (0)44 206 31 31
museum.rietberg@zuerich.ch
http://www.rietberg.ch
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