Samstag, 18. Juni 2011
Ein Fetisch im Focus
Basel.- Das Automobil ist das wichtigste Kulturgut des 20. Jahrhunderts und spiegelt die gesellschaftliche Entwicklung nicht nur in der westlichen Welt. Es ist technisches Gerät und Werkzeug zur Fortbewegung, bietet das höchstentwickelte und am weitesten verbreitete Interface für Mensch- Maschine-Interaktion - es ist gleichzeitig aber auch Bedeutungsträger, individualisiertes Wohnzimmer, Medium für kleine und grosse Fluchten, Mittel zur Distanzierung und persönlichen Profilierung. Es ist nicht wirklich verwunderlich, dass sich das Museum Tinguely in basel dieses Themas angenommen hat, "Ich fahre, also bin ich" ist die Unterzeile zur Ausstellung Fetisch Auto, die noch bis 9. Oktober zu sehen ist.
Der Sog der Geschwindigkeit sowie ein neues Raumund Zeitgefühl war für die (Stadt-) Wahrnehmung und den Rhythmus des modernen Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts prägend. Er ist genuin mit dem Blick durch die Windschutzscheibe verbunden und fährt als filmischer Blick auf die Realität bis heute mit. Die Ausstellung «Fetisch Auto» zeigt dieses weite Panorama von durch das Automobil inspirierter Kunst mit rund 160 Kunstwerken von 80 Künstlern, u.a. von Giacomo Balla, Robert Frank, Jean Tinguely, Andy Warhol, Gerhard Richter, Chris Burden, Damián Ortega, Richard Prince oder Superflex).
Der symbolische und oft irrationale Überbau, der unsere Einstellung zu diesem Lieblingsspielzeug leitet, kommt auch im stockenden Kolonnenverkehr nicht zum erliegen. Entsprechend offen und vielschichtig ist das Feld für die Kunst, die das Auto als Kult-Objekt und Imaginationsmaschine untersucht. Im Zentrum der grossen Ausstellung «Fetisch Auto» im Museum Tinguely steht ein hundert Jahre übergreifendes Panorama, das diese komplexe Beziehung mit einer repräsentativen Auswahl von Werken ästhetisch wie kritisch untersucht.
In den letzten Jahren hat sich die Blickrichtung in der Untersuchung des Fetischs vom Exotischen und Randständigen hin zum Zentrum der westlichen Konsumgesellschaft und den Versprechungen ihrer Warenwelt verschoben. Der Fetischismus als projektiver Akt gegenüber dem Objekt wurde als Phänomen der (Hoch-) Kultur mit der Moderne zwar verdrängt, ist aber nicht verschwunden, und so gehen von den Dingen auch heute formative Kräfte aus, welche Anmutungen, Einstellungen, Imaginationen, aber auch Gebrauchs- und Handlungsformen enthalten. Diese anhand des Automobils als «komplexem Ding» zu untersuchen, ist ein Ziel der Ausstellung und des dazu erscheinenden Katalogbuchs. So wird die Unterscheidung von Waren-, sexuellem und religiösem Fetisch zugleich eine Auslegeordnung für den Katalog, als auch den thematischen Zugang zur Ausstellung bilden.
Automobiles «Selbstbewegen» gibt es schon bei den Götterboten. Und just im Jahre 2011 feiert das Auto seinen 125. Geburtstag (1886 entwarf Carl Benz den berühmten Benz- Patentmotorenwagen, das erste Automobil der Welt). Die Ausstellung im Museum Tinguely, architektonisch als Rad mit Achse und radialen Kreissegmenten aufgebaut, setzt mit den radikalen Kunst- und Gesellschaftsentwürfen der Futuristen ein, die den Menschen in einer neuen Ästhetik der Dauerbeschleunigung symbiotisch mit der Maschine verbinden. 1909 propagierte Filippo Tommaso Marinetti im «Futuristischen Manifest» die automobile Raserei und den Rennwagen als neues Schönheitsideal nach dem alten der Nike von Samothrake. Die Futuristen vergöttern das Reich der Maschine, widmen dem Rennautomobil Gedichte und stimmen einen «Hymnus an den Tod» an. In der bildenden Kunst sind es vor allem Werke von Giacomo Balla und Luigi Russolo, welche Impressionen automobiler Bewegung als Synästhesie von Licht, Schall und Geschwindigkeit im urbanen Raum darstellen. Diese beiden Künstler bilden historisch den Auftakt zur Ausstellung mit einem eigenen Raum, der diesen Rausch der Sinne mit einem Panorama von Werken zeigen will.
Zwei grosse Räume der Ausstellung «Fetisch Auto» sind Höhepunkten der automobilen Weltsicht in der Kunst der 60er und 70er Jahre gewidmet. In vielen Werken der amerikanischen Pop-Art und ihrer Vorläufer ist der genuin mit dem Auto verbundene «American way of life» und seine massenmediale Verbreitung Thema künstlerischer Arbeiten, so bei Andy Warhol («Disaster Series», «Cars»), Ed Ruscha, John Chamberlain, Robert Rauschenberg, Mel Ramos, Roy Lichtenstein oder Don Eddy. In Europa ist es der Nouveau Réalisme mit Arbeiten von Arman, César, Gérard Deschamps, Mimmo Rotella oder auch Jean Tinguely, welche Maschine und automobile Warenwelt zu Kunst transformieren, sei es plakativ, geschichtet, komprimiert oder degeneriert. Aber auch europäische Formen der Pop-Art sowie fotorealistische und medienreflexive Tendenzen, zum Beispiel bei Konrad Klapheck, Paul Stämpfli, Werner Ritter, Franz Gertsch, Gerhard Richter oder Wolf Vostell setzen sich oft mit dem Auto als einem Protagonisten und Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen auseinander. Mit Wolf Vostell («Das Theater ist auf der Strasse») und Allan Kaprow sind zwei Hauptvertreter von Happening und Performance in der Ausstellung vertreten. Allan Kaprows aus einer Fülle aufgetürmter Reifen bestehende Arbeit «Yard» von 1961 erfährt in der Ausstellung eine Neuinszenierung.
Der Gang durch die Kunst-Geschichte automobiler Inspirationen von den Futuristen bis heute wird in der Ausstellung von einem zweiten, thematischen Ausstellungsstrang begleitet. Seinen Zugang zur Ausstellung kann der Besucher wählen zwischen der Kunst im Zeichen des Warenfetischismus (Lack und Chrom, der Autokauf als Kauf von Fiktionen und Ersatzhandlung, Fliessband-Produktion und Akkumulation) mit Arbeiten von Ant Farm, Arman, Edward Burtynsky, Jan Dibbets, Hans Hansen, Peter Keetman, Len Lye, Hendrik Spohler, Peter Stämpfli und Pascal Weidmann, des religiösen Fetischismus (Autodafé, «Déesse», Nagelfetisch und Autofriedhof) mit Arbeiten von Kudjoe Affutu, Chris Burden, Jordi Colomer, Walker Evans, Jitish Kallat, Annika Larsson, Superflex und Dale Yudelman, oder des sexuellen Fetischismus (Phallische Körpererweiterung, Motorenpotenz, weibliche Rundungen, das Auto als Junggesellenmaschine) mit Arbeiten von Liz Cohen, Sylvie Fleury, Wenyu Ji, Allan Kaprow, Richard Prince, Pipilotti Rist, Bruno Rousseaud und Franck Scurti. Weitere Apotheosen automobiler Befindlichkeiten finden sich in Räumen zu Themen des Unfalls mit Arbeiten von Brassaï, James Dean, Robert Frank, Jacques-Henri Lartigue, Mickry 3, Arnold Odermatt, Roman Signer und Wolf Vostell, zur Geschwindigkeit mit Arbeiten von Horst Baumann, Géo Ham, Jacques-Henri Lartigue, Richard Prince, Man Ray und Anton Stankowski, zum Verkehr mit Arbeiten von Andreas Feininger, Robert Frank, Jacques-Henri Lartigue, Julian Opie, June Bum Park, Peter Roehr, Samuel Rousseau, Bruno Ruckstuhl, Michael Sailstorfer, Stefan Sous und Peter Stämpfli.
Ein weiterer Raum ist schliesslich den Themen «Rückzug und Flucht» oder «Wohnzimmer und Weltraum» gewidmet, mit Arbeiten von Michel de Broin, Edward Kienholz, Hans-Peter Feldmann, Zilla Leutenegger, Thomas Mailänder, Ahmet Ögüt, Betsabeé Romero und Andrea Zittel. Im Zentrum, inszeniert als Achse der ganzen Ausstellung, befindet sich Damian Ortegas grosse Arbeit «Cosmic Thing», ein wie als Explosionsdarstellung in den Raum expandierter VW-Käfer. Die Eingangswand empfängt den Besucher mit einer Serie von Autofahrer-Porträts «on the move» von Andrew Bush. Ein von Virgil Widrich als automobile Love-Story aufgebauter Zusammenschnitt berühmter Filmszenen läuft während der Ausstellung permanent im Vortragssaal des Museums.
Das Museum Tinguely verfügt in seiner Sammlung über mehrere Werke, die direkt von Autos inspiriert sind und Teile davon verwenden. Jean Tinguely war ein großer Liebhaber des «schönsten Kunstwerkes» der Welt. So funktionierte er zwei Rennwagen-Chassis zu einem Flügelaltar um, erinnerte mit einer Fahrskulpturen aus einem Renault Safari an die Vergänglichkeiten der westlichen Konsumkultur oder arrangierte Eva Aepplis «Die fünf Witwen» mit einem von ihm erworbenen Lotus Rennwagen (einst gefahren von Weltmeister Jim Clark) zu einer Memorialassemblage für den oft tödlichen Rennzirkus der Formel 1. Beim neuen Realisten Tinguely floss seine grosse Leidenschaft für die Geschwindigkeit und die Maschine (er war früh auch berüchtigt für seine Autounfälle) in die Arbeit ein, und er verpasste kaum ein Rennen der Formel 1. Jo Siffert zählte ebenso zu seinen Freunden wie der Schwede Joakim Bonnier oder Niki Lauda. Er sammelte fanatisch Autos, vorzugsweise Ferraris, fuhr gerne Mercedes und bemalte selbst ein Seitenwagen-Gespann, das er für Rennen sponserte. Der rasende Jean war - ähnlich den Futuristen - durchdrungen vom Mythos der Geschwindigkeit. Seine Beziehung zum Automobil war zugleich euphorisch und pessimistisch.
Katalog: Der exklusiv ausgestattete Katalog beleuchtet unsere komplexe Beziehung zum Automobil mit zahlreichen Beiträgen aus einer erweiterten kulturhistorischen, soziologischen und psychologischen Perspektive. Dafür konnten zahlreiche renommierte Autoren gewonnen werden. Zu «Auto/Fetisch» schreibt Hartmut Böhme, Ludger Lütkehaus trägt ein «dingpsychologisches Pamphlet» bei, Matthias Bickenbach schreibt über den Unfall als Menetekel der Automobilität, Harun Maye über die Entdeckung der Geschwindigkeit, Micha Hilgers über das Auto als Fetisch und Identitätsprothese, David Staretz widmet der Kurve als letztem Ort automobiler Freiheit eine Eloge, Thomas Pittino untersucht Auto und Film als Liebesgeschichte zweier Emotionsmaschinen, und Manuela Kraft stellt Jean Tinguelys Autophilie in einem eigenen Kapitel vor. (336 Seiten, ISBN D: 978-3-86828-213-9.)
Öffnungszeiten: Di bis So 11 – 18 Uhr
Montag geschlossen
Fetisch Auto. Ich fahre, also bin ich
8. Juni bis 9. Oktober 2011
Museum Tinguely
Paul Sacher-Anlage 1
CH - 4002 Basel
0041 (0)61 68193-20
infos@tinguely.ch
www.tinguely.ch
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