Dienstag, 22. Dezember 2009

22. Dezember vor 70 Jahren: Weihnachtssonderzug in den Tod

Weil am Rhein/Markdorf.- Dezember 1939: Das OKW beziffert in einer amtlichen Bekanntmachung die Gesamtverluste der feindlichen und neutralen Handelsschiffahrt seit Kriegsbeginn auf 194 Schiffe mit zusammen 737.768 BRT. Am 19. dann, es ist ein sonniger Nachmittag und der Atlantik ist spiegelglatt, gerät der deutsche Ozeandampfer "Columbus" in den Zweiten Weltkrieg und kann nicht mehr nach Bremen zurückkehren. Der 22. Dezember 1939 war - gemessen an den Durchnittswerten um 1,2 Grad zu kalt. Der fünftägiger Großangriff sowjetischer Truppen auf die finnische Mannerheim-Linie bei Summa blieb erfolglos und die Kollision zweier D-Züge in Genthin fordert 132 Tote. 70 Jahre danach beschäftigt jedoch ein anderes Zugunglück die Menschen in Weil am Rhein, um 22.19 Uhr, zwischen Kluftern und Markdorf (Bodensee), gab es 101 Todesopfer, 98 Todesopfer allein aus dem Markgräflerland. und 47 Verletzte. Es waren Evakuierte auf der Fahrt in ihre Heimatorte. Binzen hatte 42 Tote zu beklagen, Egringen 7, Fischingen 2, Haltingen 7, Weil am Rhein 27 und Welmlingen 13. Sie alle wollten an Weihnachten gerne zu Hause sein.

Wie kam es zu diesem schrecklichen Unglück? Das Stadtarchiv Weil am Rhein hat die Hintergründe recherhiert: Als Antwort auf den deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 erfolgte durch England und Frankreich die Kriegserklärung. Damit wurde der Rhein zum Frontgebiet. Am Sonntag, 3. September 1939, begann man in den gefährdeten Orten mit der Evakuierung älterer Leute und Familien mit Kindern. Sie wurden an den Hochrhein, nach Bad Säckingen, Singen, Radolfzell und später ins Allgäu gebracht. Da am Oberrhein während des Feldzuges mit Polen alles ruhig blieb, war es nicht verwunderlich, dass diese Leute alle wieder in ihre Heimat zurückkehren wollten. Es war ja kurz vor Weihnachten. Die Behörden willigten schließlich ein, und ab Mitte Dezember begann man mit der Rückführung in die Heimatorte.

Einer der letzten Sonderzüge verlies Oberstdorf in Richtung Müllheim am späten Abend des 22. Dezember 1939. Mit Omnibussen kamen die Leute aus dem tief verschneiten Kleinen Walsertal, aus Hirschegg, Riezlern und Mittelberg, in der frohen Erwartung bald wieder zu Hause zu sein. Auf der eingleisigen Bodenseeuferbahn sollten sich der planmäßige Kohlenzug in Richtung Lindau und der aus dem Allgäu kommende Sonderzug in Markdorf um 22.20 Uhr kreuzen. Menschliches Versagen und eine Reihe unglücklicher Umstände im Dienstbetrieb der beiden Bahnhöfe Kluftern und Markdorf führten schließlich zu dem grauenhaften Zusammenstoß der beiden Züge auf freier Strecke.

Der Fahrdienstleiter in Markdorf gab dem aus Richtung Bermatingen täglich verkehrenden Kohlenzug freie Fahrt, ohne ihn vorher in Kluftern anzubieten bzw. von dort die Abnahme abzuwarten. Obwohl ihm die Kreuzung der beiden Züge in Markdorf bekannt war, hatte er dies im entscheidenden Moment vergessen. In Kluftern gab der zuständige Weichenwärter zum tragischen Geschehen folgende Darstellung: "Der Bahnhof Kluftern ist eingleisig, er hat Rangierweichen, Ein-, Durchfahrts-und Ausfahrtssignale. Nach Abläuten des Sonderzuges in Fischbach habe ich die Signale auf freie Fahrt gestellt. Ich versuchte, den Zug in Markdorf anzubieten, was mir aber weder am Läutewerk des Telegrafen nach am Telefon gelang. In dem Moment, als der Sonderzug den Bahnhof Kluftern passierte, habe ich das Abläutesignal gegeben. Dies wurde auch in Markdorf gehört und im selben Moment wurde ich gebeten, den Sonderzug zu stellen, weil auch der Kohlenzug auf die selbe Strecke eingefahren sei ... "

Es war bereits zu spät, und in der dunklen, nebligen Winternacht rasten die beiden Züge mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 km/h aufeinander zu. Annähernd hundert Rückkehrer aus dem Markgräflerland und drei Eisenbahner aus Radolfzell wurden Opfer dieses schrecklichen Ereignisses. Auf dem Marktplatz in Markdorf erfolgte am 1. Weihnachtsfeiertag die Aufstellung der hundert Särge, und unter Beteiligung höchster Partei- und Wehrmachtsbehörden nahm man Abschied von den Toten, ehe sie noch am selben Tag in einem Sonderzug in die Heimat überführt wurden. Vier Bedienstete der Eisenbahn waren vor dem Landgericht Konstanz wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Zwei von ihnen wurden in der Verhandlung am 3. Juli 1940 freigesprochen, zwei erhielten eine Gefängnisstrafe.

Die Verunglückten von Haltingen und Weil am Rhein

HALTINGEN
Grether Karl Friedrich, geb. 1883
Grether-Kösler Karoline, geb. 1894
Kenk-Schulz Johanna, geb. 1895
Kenk Johanna Berta, geb. 1933
Ziereisen-Haag Lina, geb. 1917
Ziereisen Walter, geb. 1938
Grether Rosemarie, geb. 1932

WEIL AM RHEIN
Brutschin Emma, geb. 1928
Davids Paul, geb. 1900
Keller Eugen, geb. 1905
Lacher-Glettli Sofie, geb. 1875
Pfeiffer-Dannenberger Rosa, geb. 1887
Rapp-Noppel Rosa, geb. 1882
Reichert-Völker Berta, geb. 1906
Reichert Erika, geb. 1930
Reichert Dora, geb. 1931
Reichert Werner, geb. 1933
Reichert Hedwig, geb. 1935
Reichert Johanna, geb. 1938
Ruch-Buchwalder Albertine, geb. 1871
Ruch-Bernart Lucia, geb. 1901
Schamberger Johann, geb. 1891
Schamberger-Zöllin Berta, geb. 1897
Schamberger Hans, geb. 1925
Schmidt-Rebmann Maria, geb. 1880
Schmidt Mathilde, geb. 1937
Schnurr-Baumgartner Adelheid, geb. 1870
Speierer Albert, geb. 1875
Speierer-Isenegger Elise, geb. 1875
Staiger-Herter Emma, geb. 1907
Weber Karl, geb. 1896
Weber-Dick Emma, geb. 1898
Zöllin Karl, geb. 1864
Zöllin-Keller Wilhelmine, geb. 1873

Quelle: Stadtarchiv Weil am Rhein

Weiterführende Links
zum Eisenbahnunglück von Genthin
zum Untergang der Columbus
zum Verlauf des Krieges im Dezember

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