Constantin Brancusi, Muse endormie [I], 1910, Bronze, poliert, 16 x 27,3 x 18,5 cm, Centre Georges Pompidou, Paris © 2011, ProLitteris, Zürich. Quelle: Fondation Beyeler
Riehen.- Die Fondation Beyeler widmet ihre grosse Sommerausstellung dem Schaffen von Constantin Brancusi (1876–1957) und Richard Serra (*1939), zwei der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Brancusi, in Rumänien geboren und von 1904 an zeitlebens in Paris arbeitend, legte mit seiner auf das Essenzielle reduzierten Formfindung den Grundstein für die abstrakte Skulptur. Der Amerikaner Serra hat mit seinen minimalistischen Stahlplastiken den Wirkungsbereich der Bildhauerei neu definiert, indem er den Betrachter unmittelbar in das Werk einbindet. Die Erscheinung und die Präsenz plastischer Form im Raum stehen dabei als Thema im Vordergrund. Gemeinsam deckt das Schaffen der beiden Pioniere der europäischen und amerikanischen Bildhauerei die Zeitspanne von über einhundert Jahren ab, in der sich die moderne Skulptur entwickelt hat.
Die wesentlichen Aspekte von Brancusis bildhauerischer Arbeit werden anhand von rund 40 exemplarischen Skulpturen beleuchtet, die in der Ausstellung verschiedenen Themengrup- pen zugeteilt sind. In der Auswahl geht es um ein Werkganzes, das in den vier Jahrzehnten von Brancusis reifem Schaffen um die Frage nach der Reduktion von Volumen im Raum und deren Transzendenz im Licht gleichsam als Erkundung formaler Essenz und »ursprüng- licher« Form kreiste. So rückt die konzentrierte, lebenslange Beschäftigung des Künstlers mit wenigen skulpturalen Motiven ins Blickfeld.
Unter den als Ensembles gezeigten Werken finden sich verschiedene Varianten der monolithischen Skulptur Der Kuss, der poetischen Kinderköpfe, Schlummernden Musen, weiblichen Torsos und der berühmten Vögel im Raum, aber auch die skandalumwitterte Princesse X sowie Adam und Eva und die ikonische Unendliche Säule. Darüber hinaus wird Brancusis L’enfant au monde, ein sogenanntes »groupe mobile«, aus den originalen Holz- skulpturen rekonstruiert. In dieser Form der Präsentation verdichten sich die ausgewählten Werke Brancusis fast schon zu einer in sich geschlossenen Retrospektive. Besonderer Wert wird dabei auf das Konzept von Variation und die Erfahrung der unterschiedlichen Wirkungs- weisen von Materialien gelegt; daher sind neben Marmorfiguren und Bronzen auch Skulp- turen aus Holz, Zement und Gips in die Ausstellung integriert. Gerade das Spiel mit der Materialität, die unterschiedlichen Oberflächen, Glanz- oder Absorptionseffekte sind charakteristische Merkmale von Brancusis Suche nach einem künstlerischen Ideal.
Die Skulpturengruppen werden in der Ausstellung räumlich gesondert und auf grosszügig bemessener Fläche präsentiert, damit ihre Erscheinung im Raum für den Besucher als Absolutheit wahrgenommen werden kann. In einem Fotokabinett wird zudem eine Auswahl von zwanzig Originalfotografien vorgestellt, die in wesentlichem Masse Aufschluss über Brancusis eigene Werksicht geben. Die entscheidende Erkenntnis einer idealen Präsenz im Raum, die Frage nach dem Wesen von Skulptur, wird in zehn ausgesuchten, aus verschiedenen Schaffensphasen stammenden Werken von Richard Serra in anderer, aber nicht weniger eindringlicher Weise aufgegriffen. Zudem wird eine neue Serie von Arbeiten auf Papier gezeigt. Die wiederum retrospektiv angelegte Werkauswahl umfasst Serras frühe Arbeiten aus Gummi und Blei wie etwa die Belts (1966/67) und Lead Props ebenso wie seine charakteristischen Stahlplastiken Strike: Page 2 To Roberta and Rudy (1969–1971) und Delineator (1974/75).
Das »curved piece« Olson (1986) eröffnet eine weitere Facette in Serras Werk. Fernando Pessoa (2007/08) steht in seiner radikalen Schlichtheit als Beispiel für die Entwicklung der jüngeren Zeit und spannt gleichzeitig einen Bogen zu früheren Werken wie Strike. Serra selbst hat wiederholt sein besonderes Interesse für Brancusis Schaffen bekundet, das er 1964/1965 während eines längeren Aufenthalts in Paris im rekonstruierten Atelier Brancusi studieren konnte. Dort fertigte Serra täglich Zeichnungen an, die es ihm erlaubten, gleichsam Zugang zur Logik von Brancusis Arbeit zu finden und von dessen skulpturalem Denken zu lernen. Später sollte Serra Brancusis Kunst gar als »Enzyklopädie« bezeichnen, als »Handbuch von Möglichkeiten« (»handbook of possiblities«), welches ihn freilich zu ganz anderen, neuen skulpturalen Lösungen zu animieren vermochte.
So erschliessen sich auch in der Ausstellung die künstlerischen Beziehungen zwischen Brancusi und Serra visuell in Form eines offenen und freien Dialogs zwischen den Werken: Bildgegenüberstellungen, die Gemeinsamkeiten, aber auch spannungsvolle Kontraste vor Augen führen, wechseln sich mit en suite arrangierten Werkanordnungen ab, welche die Kraft von Skulptur allgemein zu erkennen geben und neu erfahrbar machen. Insbesondere der in Raum und Zeit ruhende und zugleich in prekärer Balance stehende skulpturale Körper verbindet Brancusis und Serras singuläre Œuvres und verweist dabei auf die Universalität und Kontinuität von Plastik gleichermassen. Das skulpturale Werk von Constantin Brancusi kann erstmals überhaupt in Form einer Retrospektive in der Schweiz gezeigt werden, wie auch das Schaffen von Richard Serra in solch umfassender Weise hier noch nie zu sehen war.
Für die Installation der Plastiken von Serra in der Fondation Beyeler bedeutet dies eine grosse technische Herausforderung, die statischen Rahmenbedingungen mussten im Museum dafür erst geschaffen werden. Alleine für das Einbringen von Fernando Pessoa wurden, das Gewicht der Skulptur mit eingerech- net, siebzig Tonnen Stahl bewegt. Die Leihgaben der Ausstellung stammen aus renommierten Privatsammlungen und namhaften Museen, darunter das Solomon R. Guggenheim Museum, New York, das Museum of Modern Art, New York, das Museum of Fine Arts, Houston, das Philadelphia Museum of Art, die Art Gallery of Ontario, Toronto, die Tate, London, das Musée National d’Art moderne, Centre Georges Pompidou, Paris, die Peggy Guggenheim Collection, Venedig, das Stedelijk Museum, Amsterdam, das Muzeul de Arta, Craiova, die Hamburger Kunsthalle, die Staatsgalerie Stuttgart, das Lehmbruck Museum, Duisburg, das Kunstmuseum Basel und das Kunsthaus Zürich.
Die von Oliver Wick kuratierte Ausstellung in der Fondation Beyeler entsteht in Partnerschaft mit dem Guggenheim Museum Bilbao, das als zweite Station vorgesehen ist (8.10.2011– 15.4.2012). Zur Ausstellung erscheint ein reich bebilderter, wissenschaftlicher Katalog in einer getrenn- ten Ausgabe in Deutsch, Englisch und Spanisch beim Hatje Cantz Verlag, Ostfildern. Er enthält Essays von Oliver Wick, Friedrich Teja Bach, Alfred Pacquement und Jacqueline Matisse Monnier sowie Kommentare von Raphaël Bouvier, Denise Ellenberger, Alexandra Parigoris, Ileana Parvu, Marielle Tabart, Michelle White und Jon Wood und eine Biografie beider Künstler. 244 Seiten, 176 Abbildungen, CHF 68.–, ISBN 978-3-905632-88-0. Im Raum Basel ist Richard Serra mit drei Aussenskulpturen im öffentlichen Raum vertreten: der Installation Open Field Vertical/Horizontal Elevations im Wenkenpark in Riehen/Basel, die 1980 im Rahmen der von Ernst Beyeler mitorganisierten Ausstellung »Skulptur im 20. Jahrhundert« errichtet wurde, der 1992 installierten Stahlplastik Intersection auf dem Page 3 Theaterplatz im Stadtzentrum von Basel sowie der 2004 enthüllten Stahlplastik Dirk’s Pod auf dem Novartis Campus, Basel.
Öffnungszeiten der Fondation Beyeler: täglich 10.00–18.00 Uhr, mittwochs bis 20.00 Uhr
Constantin Brancusi und Richard Serra
22. Mai bis 21. August 2011
Fondation Beyeler,
Beyeler Museum AG,
Baselstrasse 77,
CH-4125 Riehen
www.fondationbeyeler.ch